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Die Fehldiagnose

Seniorin beim Fitnesstraining im Wald

Eigentlich hatte sich Hannah S. geschworen, keine weiteren Eingriffe mehr vornehmen zu lassen. Nach zwei Hüftoperationen hatte sie immer noch Schmerzen und war entsprechend enttäuscht. Daher lehnte sie zunächst entrüstet ab, als wir ihr eine Operation an der Wirbelsäule empfahlen. Sie war nämlich vorher auf Grundlage einer Fehldiagnose behandelt worden.

Seit Jahren hatte die Patientin unter Belastung zunehmende Schmerzen vor allem im linken Bein verspürt. Zunächst hatte sie Medikamente genommen und Physiotherapie verschrieben bekommen. Letztlich wurden die Schmerzen im Bereich der linken Hüfte und im vorderen Oberschenkel immer schlimmer und traten überwiegend beim Gehen auf.

Der Hausarzt überwies sie mit Verdacht auf Hüftgelenksarthrose zum Orthopäden, der im Röntgenbild tatsächlich einen linksbetonten Verschleiß der Hüftgelenke feststellen konnte. Ein Kernspintomogramm der Lendenwirbelsäule hatte keine Ursache der Symptome gezeigt. Die Schmerzen aber überdauerten selbst eine intensive konservative Therapie. Schließlich schlug der Orthopäde Frau S. einen operativen Hüftgelenksersatz vor, der komplikationslos durchgeführt wurde.

Voller Hoffnung trat die Patientin die Reha-Maßnahme an, musste aber schnell feststellen, dass die Beschwerden hartnäckig blieben. Auch eine weitere intensive Abklärung ergab keinen eindeutigen Hinweis auf die Ursache. Der Hausarzt empfahl der Patientin daher eine Zweitmeinung bei einem weiteren Orthopäden. Dieser glaubte auf den Kontroll-Röntgenbildern eine Fehlstellung des Hüftimplantats zu erkennen und riet zu einer erneuten Operation. Hannah S. wusste sich keinen anderen Rat und willigte ein.

Erneut aber wurde sie enttäuscht. Statt ihre Not zu lindern, hatte die Operation die Symptomatik verschärft, sodass Frau S. selbst im Liegen Schmerzen hatte.

Zunehmend kamen dem Hausarzt nun Zweifel an der Ursache der Beschwerden. Er überwies die Patientin in unsere neurochirurgische Ambulanz.

Bei der Vorstellung zeigte sich bei Frau S. ein Schmerz, der von der Hüftregion ausgehend in den vorderen Oberschenkel links ausstrahlte. Das Gefühlsempfinden war am seitlichen Oberschenkel im Bereich der Operationsnarben gestört, auffällig war noch eine Abschwächung des linksseitigen Patellarsehnenreflexes, den man durch Schlagen mit dem Reflexhammer auf die Knieregion auslöst.

Die Ausbreitung der Schmerzen wäre durchaus typisch für eine Hüftgelenksarthrose, allerdings folgte der Verlauf der Beschwerden einer bestimmten Nervenwurzel, wie es auch bei Bandscheibenvorfällen häufig gesehen wird. Wir vermuteten daher ein sogenanntes L3-Syndrom, bei dem der 3. Lendennerv geschädigt ist, meist durch einen Bandscheibenvorfall in der Höhe zwischen dem 2. und 3. Lendenwirbel.

Hatte man den Vorfall in der Kernspintomographie vor der ersten Hüftoperation übersehen? Wir überprüften die damaligen Bilder: Es fand sich kein Bandscheibenvorfall in der fraglichen Höhe. Allerdings zeigte sich deutlich die Ursache der Schmerzen an einer anderen Stelle. Die unterhalb des 3. Lendenwirbelkörpers liegende Bandscheibe war nach seitlich links neben die Wirbelsäule ausgetreten und presste sich dort gegen den 3. Lendennerv. Diese seitlichen, sogenannten „lateralen“ Bandscheibenvorfälle sind eher selten und werden in der diagnostischen Alltagsroutine häufig übersehen, da sie praktisch neben der Wirbelsäule liegen und so dem Augenmerk des Arztes entgehen können.

Frau S. konnte sich glücklicherweise zur Operation des Bandscheibenvorfalles entschließen. Schon bald nach dem Eingriff ließen die Schmerzen nach. Nach der Reha-Maßnahme war die Patientin bei der Kontrolluntersuchung recht zufrieden. Die Gefühlsstörungen und die Abschwächung des Reflexes hatten sich zwar nicht mehr gebessert, die Schmerzen waren aber verschwunden.

Seltene Befunde werden häufig übersehen, seltene Erkrankung zunächst oft nicht erkannt. Liegt das an einer Nachlässigkeit der Ärzte? Nicht unbedingt. Die Schulmedizin ist in der Diagnostik oft darauf angewiesen, mit Wahrscheinlichkeiten zu arbeiten: Ein Patient kommt mit einer bestimmten Symptomenkonstellation und einer entsprechenden Anamnese (die Krankengeschichte des Patienten) zum Arzt. Dort wird zusätzlich noch ein körperlicher Untersuchungsbefund erhoben. Der Arzt ermittelt mit seinem Wissen und seiner Erfahrung aus diesen Puzzleteilen die wahrscheinlichste Diagnose und kann diesen Verdacht ggf. durch eine zusätzliche Apparateuntersuchung (z.B. Röntgen oder Laboruntersuchungen) erhärten. Ein Beweis für das Vorliegen der vermuteten Erkrankung ist damit in der Regel aber nicht erbracht. Es wird nun gemäß der vermuteten, wahrscheinlichsten Ursache der Beschwerden behandelt. Den meisten Patienten ist damit geholfen. Soweit, so gut.

Bei einigen wenigen Patienten mit der gleichen Kombination aus Symptomen, Anamnese und Untersuchungsbefund liegt aber eine andere seltene Erkrankung vor. Sie profitieren daher nicht von der Therapie. Erst dann wird der Arzt vermuten, dass bei diesem Patienten nicht die häufigste, wahrscheinlichste Ursache der Beschwerden vorliegt und somit bisher eine Fehldiagnose gestellt wurde.

Die Ursachen für eine zunächst erfolglose Behandlung, die im Nachhinein vielleicht sogar als fehlerhaft erkannt wird, können sehr komplex sein. Entscheidend ist, dass sich Arzt und Patient bei einem Therapiemisserfolg weiter auf die Suche nach der Ursache und der richtigen Therapie machen. Für Hannah S. wurde aus einer Leidensgeschichte letztlich doch noch ein schöner Therapieerfolg.

1 Kommentar

  1. Bin von Ihrem Blog begeistert – hier speziell die Offenheit, was das Erstellen einer Diagnose betrifft.
    Werde diese Seite bei meiner Arbeit im KVK (Krankenhaus-Verbindungskomitee) verwenden, um Patienten Mut zu machen.

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