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Der Karnevalsprinz

konfettiVor etwa einem Jahr polterte es an meiner Tür in unserer Ambulanz. Ich befürchtete, dass ein Patient auf dem Flur lang hingeschlagen ist und sah schnell nach. Vor der Tür stand ein riesiger Mann mit einem fußball-großen Kopf und kleinen punktförmigen Augen. Er schien keinen Hals zu haben, der Kopf ging direkt in einen mächtigen Brustkorb über, an seinen Armen baumelten gewaltige Pranken. „Da sind sie ja!“, rief er, „sie müssen mir helfen.“ Etwas verwirrt bat ich ihn in das Untersuchungszimmer.

Klaus Z. stellte sich mir vor und klagte mir zunächst sein großes Leid. Er habe seit 2 Wochen stärkste Schmerzen im rechten Arm und die Finger seien so taub. Die Sache habe ganz plötzlich angefangen und sei dann immer schlimmer geworden. Er könne nachts kaum noch schlafen und nehme schon jede Menge Tabletten ein. Es helfe aber alles nicht. Sein Hausarzt habe nun gesagt, dass die Schmerzen von der Bandscheibe kommen könnten, daher sei er nun hier, wir wären schließlich die Experten.

Ich fragte nun noch ein bisschen genauer nach den Symptomen und konnte feststellen, dass es sich um eine unterarm-betonte Schmerzsymptomatik rechts und eine Taubheit (Hypästhesie) der ersten drei Finger der rechten Hand handelte. Sonstige Symptome waren nicht vorhanden, insbesondere keine weiteren neurologischen Ausfälle und keine relevanten Schmerzen der Wirbelsäule – weder bei Bewegung noch bei Druck auf die Wirbel. Auch die Reflexe waren unauffällig.

Die Schmerzen und die Hypästhesie der Finger würden schon durchaus zu einem C6-Syndrom passen, welches oft dadurch ausgelöst wird, dass ein Bandscheibenvorfall in der Halswirbelsäule zwischen dem 5. und 6. Halswirbel auf die Nervenwurzel C6 drückt, die an dieser Stelle die Wirbelsäule verlässt und in die beschriebene Region des Armes zieht. Insofern war die Verdachtsdiagnose des Hausarztes schon nachvollziehbar. Allerdings passten hier einige Details nicht, vor allem hatte der Patient keinerlei Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule. Die Symptome passten eigentlich eher zu einem sogenannten Karpaltunnelsyndrom. Bei diesem Krankheitsbild ist der Medianus-Nerv betroffen, der auf der Innenseite des Handgelenks durch den „Karpaltunnel“ in die Hand zieht. Häufigste Ursachen für dieses Syndrom sind Rheuma, Arthrosen und Gicht, weiter Nieren- oder Schilddrüsenerkrankungen, Alkoholmissbrauch, Schwangerschaft, schließlich auch Verletzungen oder Sehenscheidenentzündungen im Handgelenk. All diese möglichen Faktoren schienen bei Klaus Z. nicht so recht vorzuliegen. Ich fragte ihn, ob er sich in letzter Zeit überanstrengt habe und viel mit der Hand gearbeitet habe. Er erklärte mir, dass er grade vierzehn Tage Urlaub gehabt habe, da er im Karneval aktiv sei und im Gefolge des diesjährigen Karnevalsprinzen viele Termin gehabt habe. Von einer besonderen Anstrengung könne da aus seiner Sicht aber nicht die Rede sein.

Insofern mussten nun apparative Untersuchungen weiterhelfen. Ich überwies Klaus Z. für eine MRT-Untersuchung der Halswirbelsäule (um die Frage nach einem Bandscheibenvorfall zu klären) und vereinbarte einen kurzfristigen Termin für eine elektrophysiologische Untersuchung zur Messung der Leitungsgeschwindigkeit des Medianus-Nerven. Im Falle eines Karpaltunnel-Syndroms ist die Geschwindigkeit, mit der der Nerv elektrische Impulse weiterleitet, nämlich messbar herabgesetzt.

Insgeheim wünschte ich mir, dass es sich bei Klaus Z. nicht um einen Halsbandscheibenvorfall handeln würde, da seine Statur eine Operation technisch schwierig machen würde. Während der Operation ist eine Kontrolle durch seitliche Röntgenbilder wichtig. Bei solchen Patienten, bei denen die Halswirbelsäule schon rein äußerlich überwiegend vom Brustkorb und den Schultern verdeckt ist, ist auf den Röntgendarstellungen die Halswirbelsäule im unteren Anteil manchmal kaum zu erkennen.

Ein paar Tage später hatte Klaus Z. beide Befunde dabei und bat um einen kurzfristigen OP-Termin. Der Radiologe habe ihm bereits gesagt, dass er einen Bandscheibenvorfall habe, der müsse dann wohl operiert werden. Ich schaute mir die MRT-Aufnahmen an und fand mehrere Bandscheibenschäden, unter anderem auch zwischen dem 5. und 6. Halswirbel. Der Befund war aber nicht sehr überzeugend, da auch in anderen Bandscheibenetagen ähnliche Vorfälle zu sehen waren, die offenbar keine Symptome verursachten. Ich bat um die Befunde der Elektrophysiologie. Dort zeigte sich eine deutliche Verringerung der Nervenleitgeschwindigkeit des Nervus medianus beidseits, rechts war die Einschränkung aber stärker als links.

Aus meiner Sicht war damit ein Karpaltunnelsyndrom die wahrscheinlichste Diagnose. Der Patient sah das allerdings anders. Der Radiologe hätte ihm den Vorfall doch eindeutig gezeigt, das sei doch schließlich nicht gesund. Ich versuchte den Patienten davon zu überzeugen, dass sich das Karpaltunnelsyndrom durch eine Ruhigstellung in einer Handgelenksschiene und gegebenenfalls ergänzende Medikamente in der Regel in einer paar Wochen behandeln ließe. Sollte ich nicht Recht haben, könne man dann ja immer noch eine Operation an der Halswirbelsäule erwägen. Davon wollte Klaus Z. nichts wissen, er wolle sich eine zweite Meinung einholen und dann weitersehen.

Schon am nächsten Tag stand er wieder in unserer Praxis, erneut ohne Termin, jetzt in Begleitung  seiner Ehefrau. Die ließ schnell keinen Zweifel daran aufkommen, wer in ihrer Ehe die Hosen anhatte. Sie bat energisch um die Behandlung des Karpaltunnelsyndroms für ihren Ehemann. Klaus Z. saß auf den Boden starrend neben seiner Frau und sagte gar nichts. Ich erläuterte der Ehefrau, wieso ich in Anbetracht der Befunde auf ein Karpaltunnelsyndrom tippen würde, obwohl mir die Ursache bei ihrem Mann nicht ganz klar sei. Frau Z. schimpfte daraufhin los, dass ihr Mann im Zuge der Karnevalstage an unzähligen Terminen in Begleitung des Karnevalsprinzen unterwegs gewesen sei und dabei unentwegt Belastungen der Hand gehabt habe. „Das ewige Gewinke, das Händeschwenken zur Musik und zu den Rufen, das ständige Händeschütteln… immer wieder habe ich ihm gesagt, er muss kürzer treten. Schon zu Altweiber hat ihm doch die Hand wehgetan, aber er musste ja unbedingt weiter machen!“

Nun ergab die Geschichte für mich einen Sinn. Ich verordnete Klaus Z. eine Handgelenksschiene mit der Maßgabe, diese für wenigstens vier Wochen möglichst oft zu tragen. Auf eine unterstützende Medikation wollte der Patient lieber verzichten. So konnte ich ihn und seine zufriedene Ehefrau wieder entlassen.

Vor zwei Wochen traf ich die Ehefrau von Klaus Z. in der Cafeteria unseres Krankenhauses wieder. Sie hatte eine Nichte besucht, die operiert worden war. Ich konnte mich an sie wegen ihres resoluten Auftretens damals sehr gut erinnern und fragte sie deshalb, wie es ihrem Ehemann ergangen sei. „Ach der…, der ist wieder ganz fit. Die Armschmerzen waren mit der Schiene schnell besser. Jetzt ist er schon wieder den ganzen Tag mit dem Karneval unterwegs, es ist ja wieder die heiße Phase der Session“, stöhnte sie. „Da muss ihr Mann aber aufpassen, dass ihm nicht das Gleiche passiert, wie vor einem Jahr“, gab ich zu bedenken. „Das wird wohl kaum möglich sein“, schmunzelte Frau Z. mir zu, „in diesem Jahr ist nämlich er selbst der Karnevalsprinz.“

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