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Ende gut – alles gut?

Zuerst hat Renate M. nur Nackenschmerzen bemerkt. Besonders abends nach der Arbeit in der Verwaltung des Naturkundemuseums fühlt sich der Nacken ganz steif an, dann kommt es auch zu Kopfschmerzen und manchmal kann sie nur mit einer warmen Nackenrolle und einer Schmerztablette einschlafen. Erst als die Schmerzen eines Tages in den linken Arm ausstrahlen, macht sich die Patientin Sorgen und sucht ihren Hausarzt auf.


Dieser macht zunächst ein EKG und prüft die Laborwerte, um einen Herzinfarkt auszuschließen. Es gibt keine Auffälligkeiten. Der Hausarzt verschreibt Ibuprofen gegen die Schmerzen und ein Muskelrelaxans zur Entspannung der Nackenmuskulatur. Renate M. soll in 14 Tagen wiederkommen, falls sich die Beschwerden nicht gebessert haben.
Die Medikamente schlagen gut an, die Patientin kann weiter ihrer Arbeit nachgehen und hat in einer Physiotherapiepraxis auf eigene Kosten Massagen im Nackenbereich durchführen lassen.
Eine Woche später spürt Renate M. am Freitagmittag während der Autofahrt von der Arbeit nach Hause plötzlich ein „Knacken“ in der Halswirbelsäule und dann einen scharfen Schmerz wie ein Stromschlag im linken Arm. Schnell hält sie am Straßenrand an und hat das Gefühl, der linke Arm gehorche ihr gar nicht mehr. Als der Schmerz etwas nachlässt, fährt sie vorsichtig weiter, aber nicht nach Hause, sondern direkt zur Notaufnahme unseres Krankenhauses.
Ich lerne Renate M. als sehr rationale Patientin kennen. Sie berichtet von ihren Beschwerden und betont immer wieder, dass es ja bestimmt nichts schlimmes sei. Sie wolle eigentlich nur ein Infusion oder etwas ähnliches, damit der Schmerz im Arm schnell verschwindet.
Bei der Untersuchung zeigt sich ein etwas anderes Bild: Die Schmerzen im Arm folgen dem Verlauf der Nerven aus der Nervenwurzel C6, die zwischen dem 5. und 6. Halswirbel den Wirbelkanal verlässt. Im selben Bereich verspürt die Patientin ein Kribbeln und ein Taubheitsgefühl. Besonders ungünstig ist jedoch die Schwäche des Bizepsmuskels am linken Arm, die Patientin kann den Arm nicht richtig beugen. Alles deutet auf einen Bandscheibenvorfall zwischen dem 5. und 6. Halswirbel hin, der die Nervenwurzel C6 bedrängt. Da die Muskellähmung erst kurze Zeit besteht, gibt es gute Chancen auf eine vollständige Besserung, wenn der Bandscheibenvorfall rasch entfernt und die Nervenwurzel wieder entlastet wird. Ich erkläre der Patientin diese Einschätzung, Renate M. möchte aber noch nicht glauben, dass es mit einer Infusion nicht getan ist. Wir vereinbaren eine MRT-Bildgebung der Halswirbelsäule, um meine Verdachtsdiagnose zu überprüfen, und wollen danach die Therapie gemeinsam festlegen.
In der Radiologie melde ich das MRT als dringlich an. Es dauert trotzdem einige Stunden, bis die Bilder endlich gemacht werden können. Zwischenzeitlich muss ich in den OP, sodass ich erst am späteren Nachmittag dazu komme, die Bilder zu sichten. Eindrucksvoll zeigt sich dort der vermutete Bandscheibenvorfall. Ich zeige Renate M. die Bilder und erkläre ihr, wie man den Vorfall operativ entfernen kann. Wegen der Lähmung schlage ich ihr die Operation noch am selben Tag vor.
Die Patientin tut sich schwer mit der Entscheidung, sie möchte erst mit ihrem Ehemann darüber sprechen. Der komme gleich von seinem Arbeitsplatz hierher. Ich kümmere mich erst mal um zwei weitere Patienten, die inzwischen in der Notaufnahme eingetroffen waren und vom Neurochirurgen gesehen werden sollten. Beide hatten völlig harmlose Rückenschmerzen und konnten nach Schmerzmittelgabe wieder entlassen werden. Ich kehre zurück in das Untersuchungszimmer von Renate M. und frage nach dem Stand der Dinge. Der Ehemann ist inzwischen eingetroffen und lässt sich die Situation, die MRT-Bilder und die möglichen Therapieverfahren von mir schildern. Ich erkläre ihm ausführlich auch die Operation und die Nachbehandlung sowie alle realistischen Risiken. Er ist wenig angetan vor der Idee einer Operation, was die Patientin noch mehr verunsichert. Der Ehemann spricht offen an, dass er gehört habe, es würde häufig zu schnell operiert, und er deshalb meinem Rat nicht vertraut. Ich erkläre beiden nochmals das Problem der bleibenden Armlähmung bei länger andauerndem Druck der Bandscheibe auf die Nervenwurzel. Beide erbitten sich Bedenkzeit, der Ehemann erwägt, sich einen zweiten Rat einzuholen.
Inzwischen ist es Abend geworden. Da Renate M. sich noch immer nicht entschliessen kann, vereinbaren wir zunächst die Aufnahme auf unsere Station und die weitere Schmerztherapie durch Infusionen. Ich entscheide mich, nach Hause zu fahren, um an diesem Freitagabend noch etwas Zeit mit meine Familie zu verbringen. Ich bin gerade 5 Minuten zuhause, als mich das Krankenhaus anruft. Renate M. hatte auf der Station plötzlich eine vollständige Taubheit des linken Arms und Kribbeln im linken Bein verspürt. Diese Verschlechterung hatte sie nun von einer Operation überzeugt. Ich gab telefonisch die entsprechenden Anweisungen zur Vorbereitung der OP und machte mich wieder auf den Weg in Krankenhaus.
Die Operation verlief nach Plan. Über einen kleinen Schnitt vorn am Hals gelangt man am Schlund vorbei rasch zur Halswirbelsäule. Die geschädigte Bandscheibe wird unter dem Mikroskop vollständig entfernt und der Vorfall dann vorsichtig aus dem Spinalkanal mobilisiert. Dabei zeigt sich, dass bei Renate M. der Vorfall nochmals deutlich größer geworden war und auch auf das Rückenmark drückte. In den nun leeren Bandscheibenraum zwischen den Wirbelknochen wird dann eine künstliche Bandscheibe, eine sogenannte Bandscheibenprothese eingebracht. Das ist eine elegante Methode, um die Beweglichkeit in der betreffenden Bandscheibenhöhe zu erhalten. Nach der Operation spreche ich noch kurz mit dem Ehemann, er zeigt sich sichtlich erleichtert über den guten Verlauf. Ich fahre zufrieden nach Hause.
Am nächsten Morgen ist die Patientin bei der Visite wohlauf: Die Schmerzen im Arm sind komplett verschwunden. Frau M. hat leichte Schluckbeschwerden. Die Lähmung des linken Arms ist zwar etwas besser, jedoch noch deutlich vorhanden; die Gefühlsstörungen sind etwas zurück gegangen. Die Patientin ist darüber sehr beunruhigt. Die Nervenwurzel hat wohl doch schon zu viel gelitten. Ich versuche, die Patientin zu beruhigen und mache ihr die Hoffnung, dass sich die Lähmung im Verlauf noch bessern kann.
Am nächsten Tag wird die Patientin entlassen und ich sehe sie nach 7 Wochen zur Kontrolluntersuchung wieder. Sie hat keine Schmerzen, aber die Lähmung hat sich nicht vollständig gebessert. Auch sind noch Gefühlsstörungen vorhanden, allerdings nur noch in der linken Hand. Da Renate M. Rechtshänderin ist, wird sie dadurch im Alltag nicht wesentlich behindert. Seit drei Wochen arbeitet sie wieder im Naturkundemuseum und kommt gut zurecht. Sie ist daher mit dem Ergebnis der Operation zufrieden und erklärt mir, dass sie sehr froh sei, nach ihrer so zögerlichen Entscheidung zur OP noch so glimpflich davon gekommen zu sein.
Ende gut – alles gut? Vermutlich hätte eine frühere Operation die dramatische Verschlechterung auf der Station am Abend vor der OP verhindert und somit die Chancen auf eine vollständige Besserung deutlich erhöht. Das Misstrauen des Ehemanns und die Unentschlossenheit der Patientin haben dies nicht zugelassen. Hätte man anders reagieren müssen? Hätte ich dramatischer auf die Operation drängen müssen?
Die Entscheidung zu einer Operation ist immer von vielen Umständen abhängig und nur ein Aspekt davon ist die medizinische Indikation. Mitbestimmend sind oft auch der Leidensdruck durch die Symptomatik, die Lebenssituation des Patienten, die vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten, die Vorerfahrungen des Patienten und des Behandlers und auch emotionale Befindlichkeiten. In jeder einzelnen Situation muss aus der Summe dieser Einflüsse die bestmögliche Entscheidung getroffen werden. Manchmal stellt sich diese Entscheidung hinterher als falsch oder nicht optimal dar. Oft liegt man aber gerade dann mit der Entscheidung genau richtig, wenn man alle diese genannten Einflüsse berücksichtigt. Dann kann man – auch bei nicht perfektem Ausgang der Behandlung – mit gutem Gewissen sagen: Ende gut – alles gut!

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