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Häufiges ist häufig und Seltenes ist selten!

Dieser in der Medizin gern zitierte Leitsatz wird Studenten und Assistenzärzten immer dann vorgehalten, wenn es darum geht, bei der Diagnostik zunächst an die wahrscheinlichste Erkrankung als Ursache der Symptome des Patienten zu denken. Allzu gern wird nämlich von den jungen Kolleginnen und Kollegen eine seltene und daher „spannende“ Ursache vermutet, wo meist eine banale Diagnose vorliegt. Diese Erkenntnis hilft bei der Behandlung von Patienten, da sie umständliche und zeitraubende diagnostische Test vermeidet, wo zügige Hilfe angebracht ist. Es kann es aber auch passieren, dass genau deshalb eine seltene Erkrankung übersehen wird, manchmal mit schlimmen Folgen für die Patienten. So auch im Fall von Andrej M., der mit den typischen Symptomen eines Bandscheibenvorfalls zu uns in die Notaufnahme kam.

Der 55-jährige Patient war vor fast 30 Jahren aus Russland nach Deutschland gekommen und hatte seither als Asphaltierer in Strassenbau gearbeitet. Oft hatte er mit Rückenschmerzen zu tun, konnte sich aber immer ganz gut selbst therapieren. „Wärmekissen, ab und zu eine Tablette und viel frische Luft“ waren seine Hausmittel gegen die Schmerzen. Seit einigen Tagen hatte Andrej nun Schmerzen im rechten Bein bemerkt, die über die Hüfte in den vorderen Oberschenkel bis zum Kniegelenk ausstrahlten. Er war weiter zur Arbeit gegangen, hatte aber plötzlich nicht mehr gut länger stehen können, weshalb ihn seine Kollegen gedrängt hatten, ins Krankenhaus zu gehen. Wir sollten ihn wieder fit für die Arbeit machen.

Bei der Untersuchung zeigte sich lediglich ein Schmerz in der Versorgungsregion der Nervenwurzel L4. Es bestand ein typischer Nervendehnungsschmerz beim Überstrecken des Beines im Hüftgelenk (umgekehrtes Zeichen nach Lasegue), ein neurologisches Defizit im Sinne einer Störung der Sensibilität oder einer Lähmung war nicht auszumachen. Der Kniestreckerreflex (Patellarsehnenreflex) zeigte sich auf der rechten Seite abgeschwächt, was ebenfalls ein Hinweis auf eine Schädigung im Bereich der L4-Nervenwurzel sein kann. Ansonsten ergab sich ein etwas diffuser Schmerz der Lendenwirbelsäule beim Abklopfen und leichte Schmerzen beim Druck auf das rechte Kreuz-Darmbein-Gelenk (Illiosakralgelenk, ISG).

Insgesamt deutete alles auf einen Bandscheibenvorfall der Lendenwirbelsäule mit Irritation der Nervenwurzel L4 rechts hin. Wir nahmen den Patienten stationär auf, verordneten Schmerzmittel und ließen am nächsten Tag eine MRT-Untersuchung der Lendenwirbelsäule durchführen. Die Bildgebung zeigte zwar erwartungsgemäß mehrere Bandscheibenschäden, allerdings ohne relevanten Druck auf die Nervenwurzeln im Wirbelkanal. Auch zwischen dem 3. und 4. Lendenwirbel war eine Bandscheibenvorwölbung nachweisbar, somit konnte eine Beteiligung der Nervenwurzel L4 möglich sein, ganz überzeugend war der Befund jedoch nicht.

Wir besprachen die Situation mit dem Patienten, der Befund eignete sich nicht für eine Operation. Andrej M. war sehr erleichtert, dass er keinen schlimmen Bandscheibenvorfall hatte, und ging daher freudig von einer baldigen Besserung aus. Die von uns verordneten Medikamente halfen recht gut, sodaß der Patient wieder nach Hause wollte. Wir empfahlen ihm noch Physiotherapie, sobald die Schmerzen weit genug zurück gegangen seien, und entliessen ihn in der Annahme, dass das akute Problem bald gebessert sein dürfte.

Etwa sieben Wochen später wurde Andrej M.am späten Abend mit dem Krankenwagen in unsere Notaufnahme eingeliefert. Er hatte seit einigen Tagen trotz inzwischen erhöhter Medikamentendosen immer mehr Schmerzen in den Beinen verspürt, seit dem Vortag könne er eigentlich nicht mehr laufen und spüre seit dem Nachmittag das rechte Bein kaum noch, das linke sei zunehmend schwer und lahm. In letzter Zeit sei er immer schwächer geworden und habe seit vier Wochen nicht mehr arbeiten können. Die Untersuchung zeigte leider ein linksbetontes inkomplettes Querschnitt-Syndrom unterhalb der Hüfte. Das heisst, dass in beiden Beinen wesentliche Störungen von Gefühlsempfinden und Muskelkraft vorlagen, ausserdem konnte der Patient offenbar nicht mehr richtig Wasser lassen.

Ein Notfall-CT von Bauch und Beckenregion sollte eine rasche Diagnose ermöglichen. Auf den Bildern zeigte sich ein großer Tumor, der das gesamt Kreuzbein durchwuchs und dabei die aus dem Spinalkanal kommenden Nervenwurzeln vollständig umschloss und bedrängte. Eine Möglichkeit zur Operation ergab sich aufgrund der Größe und Lage des Tumors nicht. Die weitere Diagnostik zeigte dann das gesamte Bild der Erkrankung: Es handelte sich um einen bösartigen Nierentumor (Hypernephrom), welcher Metastasen in Lunge, Leber, der Brustwirbelsäule und eben im Kreuzbein ausgebildet hatte. Andrej M. wurde in die Onkologie verlegt und erhielt eine Chemotherapie, im Bereich der Wirbelsäule und des Beckens auch Strahlentherapie. Leider konnte dadurch die Krebserkrankung nicht mehr ausreichend behandelt werden. Andrej M. verstarb ca. 5 Monate nach unserem ersten Kontakt in der Notaufnahme.

Hätten wir den Tumor schon sieben Wochen früher erkennen können? Sicherlich! Das hätte die Prognose des Patienten wahrscheinlich verbessert. Vielleicht hätten wir beim ersten Kontakt mit dem Patienten einen Verdacht geschöpft, wenn er uns von seinem unfreiwilligen Gewichtsverlust in den Wochen zuvor erzählt hätte. Ein Hinweis hätten auch die Risikofaktoren sein können, die beim Patienten vorlagen: Rauchen, Bluthochdruck, Arbeit mit Trichlorethylen (Lösungsmittel im Bitumen) und häufigerer Alkoholkonsum. All das hätte uns auf die richtige Fährte bringen können.

Haben wir also versagt? Ja und Nein! Im ersten Kontakt haben wir eine falsche Verdachtsdiagnose gestellt. Wir haben zunächst das Wahrscheinlichste, das Häufigste angenommen. Wir haben die Schmerzen behandelt und die Wirbelsäule als mögliche Ursache der Symptome abgeklärt. Die Schmerzen sind unter den Medikamenten rückläufig, das Patient fühlt sich besser und wird entlassen. Danach erst nimmt die Krankengeschichte ihren fatalen Lauf: Der Patient bemerkt nämlich eine weitere Zunahme der Schmerzen und nimmt einfach mehr von den Tabletten ein. Dadurch verschleiert und verdrängt er den ungünstigen Verlauf. Auch der Abnahme der körperlichen Leistungsfähigkeit schenkt er nicht genug Beachtung. Spätestens nach 1-2 Wochen hätte er sich wieder ärztlich vorstellen müssen, um nach der Ursache erneut zu suchen. Er kommt erst, als schon massive neurologische Ausfälle bestehen. Im Nachhinein war das viel zu spät.

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