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Muttertag im Krankenhaus

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Am Vorabend des Muttertags brachte der Sohn die 77-jährige Frau K. voller Verzweiflung in die Notaufnahme. Die Schmerzen in den Schultern und den Armen seien so schlimm geworden, dass die Patientin kaum noch die Finger oder Arme bewegen könne und morgens nicht mehr aus dem Bett käme. Es müsse jetzt etwas passieren, jetzt müsse dringend operiert werden.

Bei genauerer Befragung stellte sich heraus, dass schon seit einiger Zeit eine Wirbelkanalverengung im Bereich der Halswirbelsäule bekannt war. Diese sogenannte „zervikale Spinalkanalstenose“ kann Schmerzen im Nacken und in den Armen, aber auch neurologische Störungen in Armen und Beinen hervorrufen. Vor einigen Wochen hatte die Patientin neben den schon länger bekannten HWS-Beschwerden zunehmend vor allem morgendliche Schmerzen in den Schultern und Händen bemerkt. Da die vom Hausarzt verordneten Schmerztabletten nicht halfen, wurde eine MRT-Diagnostik der Halswirbelsäule veranlasst, um einen Bandscheibenvorfall als Ursache auszuschließen. Dabei wurde die Wirbelkanaleinengung festgestellt. Der Hausarzt überwies zum Neurochirurgen.

Der niedergelassene Kollege machte Frau K. nach der Untersuchung und der Begutachtung der MRT-Bilder wenig Hoffnung. Seiner Ansicht nach müssten für einen ausreichenden Therapieerfolg mindestens drei Wirbelsäulensegmente der Halswirbelsäule operiert werden und das wiederum sei der Patientin „in ihrem Alter“ nicht zuzumuten. Sie würde eine solche Operation kaum überstehen. Nach dieser Einschätzung verbot sich für die Patientin jeder weitere Gedanke an eine Operation. Leider nahmen die Schmerzen im Verlauf der folgenden Tage insbesondere morgens erheblich zu und auch die Beweglichkeit der Arme und Finger wurde immer schlechter.

In dieser Situation nahm nun der Sohn die Sache in die Hand und stellte seine Mutter notfällig bei uns vor. Die klinische Untersuchung ergab in der Tat eine erhebliche Bewegungseinschränkung der Schultern und Arme, sowie der Finger. Auffällig war jedoch auch eine passive Bewegungseinschränkung. Damit ist gemeint, daß die genannten Gelenke auch dann stark schmerzten, wenn sie vom Untersucher passiv bewegt wurden. Außerdem waren die Finger der Patientin deutlich angeschwollen. Dieses sind keine Symptome, die durch die abnutzungsbedingte Wirbelkanaleinengung in der Halswirbelsäule erklärt werden können. Eine zweite Auffälligkeit zeigte das MRT-Bild: Hier stellte sich zwar eine Spinalkanalstenose dar, durch die Verengung wurden jedoch weder das Rückenmark noch eine oder mehrere Nervenwurzeln wesentlich bedrängt oder gar gedrückt.

Die Beschwerden der Patientin mussten also eine andere Ursache haben. Durch die Laborwerte ergab sich der erste Hinweis: Die sog. Entzündungswerte, das sind bestimmte Laborparameter, die auf einen entzündlichen Prozess hinweisen, waren erhöht. Gelenksschmerzen und Entzündungszeichen ist die typische Konstellation bei rheumatischen Erkrankungen. Auf Nachfrage bestätigte die Patientin, dass Rheuma in ihrer Familie weit verbreitet sei, sie selbst war jedoch bisher nicht betroffen. Da die Patientin vor allem morgens stark unter den Symptomen litt, ergab sich der Verdacht auf eine Polymyositis rheumatica, also eine rheumatische Muskelentzündung. Wir begannen eine Cortison-Therapie mit Prednisolon-Tabletten. Darunter kam es innerhalb weniger Tage zu einer Besserung. Die Entzündungswerte sanken wieder in die Normalbereiche und die Beweglichkeit der Schultern und Hände nahm stetig zu. Die Dosis der Schmerzmittel konnte immer weiter reduziert werden. Frau K. konnte schließlich nach 8 Tagen von ihrem Sohn abgeholt und nach Hause begleitet werden. Die Cortison-Tabletten muss sie allerdings noch für 1 Jahr weiter nehmen.

Rheumatische Erkrankungen sind Ausdruck einer fehlgeleiteten Abwehr von körpereigenen Zellen und Strukturen durch unser Immunsystem. Dies führt zu verschiedensten Entzündungsreaktionen, z.B. in den Gelenken. Cortison wirkt „stabilisierend“ auf unser Immunsystem, weshalb es gerne zur Therapie eingesetzt wird.

Warum wurde die Diagnose in diesem Fall erst so spät gestellt? Weil man sich zu schnell mit der nächstliegenden Begründung zufrieden gegeben hatte. Bei der Patientin war eine Einengung der Halswirbelsäule bekannt. Als sie nun Schulter- und Armschmerzen beklagte, wurde die Symptomatik am ehesten auf die bekannte Vorschädigung zurückgeführt. So kam es hier fast zu einer unnötigen Operation. Die sorgfältige und vollständige Untersuchung und der sachkundige Blick auf die MRT-Bilder (und nicht nur auf den schriftlichen Befund) kann in den allermeisten Fällen Licht ins Dunkel bringen.

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