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Sankt Martin

Rund um den 11. November sieht man in vielen Orten wieder die Martinsumzüge, bei denen die Kinder mit bunten Lichtern und Laternen dem „heiligen Martin“ folgend singend durch die Strassen ziehen. Sankt Martin wird dabei meist von einem Reiter im Ornat eines antiken römischen Soldaten hoch zu Ross dargestellt. Um so einen Martinsdarsteller geht es in dieser Geschichte. Fast hätte ein Reitunfall nämlich dem Laternenumzug einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Die Notaufnahme meldete sich bei mir, um einen Verletzten anzukündigen. Der Notarzt sei auf dem Weg zu uns mit einem Patienten mit Querschnittssyndrom nach Reitunfall. Der Schockraum sei alarmiert, man erwarte das Eintreffen in 15 Minuten. Zügig machte ich mich auf den Weg in den Schockraum, wo schon das gesamte 12-köpfige Trauma-Team versammelt war.

Ein Querschittssyndrom entsteht bei Unfällen in der Regel durch eine Verletzung des Rückenmarks zum Beispiel bei Wirbelsäulenbrüchen. Nach Reitunfällen ist diese Verletzung wegen der Fallhöhe nicht ganz selten. Durch den Ausfall der Nervenbahnen können dabei auch der Kreislauf und die Funktion der inneren Organe gestört sein, weshalb ein solcher Patient immer als Schwer-Verletzter angesehen und deshalb von Anfang an von einem großen Team aus verschiedenen Fachdisziplinen versorgt wird.

Das Team des Rettungshubschraubers traf kurz danach mit dem Patienten ein. Für den Transport war der Patient, ein Mann in den 40-ger Lebensjahren, vom Notarzt vorsorglich intubiert worden, das heisst, dass der Patient für eine maschinelle Beatmung in Narkose versetzt und mit einem Beatmungsschlauch in der Luftröhre versorgt wurde. Diese Maßnahme soll verhindern, dass der Patient erstickt, falls auch die Atemmuskulatur durch das Querschnittssyndrom betroffen sein sollte. Wir konnten den Patienten also nun nicht mehr direkt befragen, sondern waren auf die Informationen angewiesen, die uns der Notarzt von der Lage am Unfallort zur Verfügung stellte. Offenbar war der Patient bei dem Sturz vom Pferd auf den unteren Rückenbereich gefallen und hatte dann die Beine nicht mehr bewegen und spüren können. Zunächst war der Patient wach gewesen, hatte dann aber vor Schmerzen im Rücken zunehmend die Besinnung verloren.

Wir stellten schnell fest, dass keine äußerlichen Verletzungszeichen festzustellen waren, auch das Notfall-Röntgenbild vom Brustkorb und dem Becken sowie der Ultraschall der Bauchregion war glücklicherweise unauffällig. Daher konnten wir den Patienten kreislaufstabil zügig in den Computertomographen bringen. Wir vermuteten natürlich am ehesten eine Verletzung der Brust- oder Lendenwirbelsäule mit Beteiligung des Rückenmarks oder der Rückenmarksnerven.

Im CT zeigte sich etwas überraschend kein eindeutiger Befund: Eine Fraktur konnte sicher ausgeschlossen werden, auch zeigte sich keine wesentliche Zerreißung oder Verletzung von Bandstrukturen und auch keine größere Einblutung. Dadurch ließ sich die Symptomatik des Patienten aber keineswegs erklären. Nachdem auch relevante Verletzungen anderer Körperregionen ausgeschlossen waren, brachten wir den Patienten direkt in den Magnetresonanztomographen (MRT oder Kernspintomograph).

Die besondere Bedeutung eines MRT liegt darin, dass alle Weichgewebe des Körpers und alle flüssigen Bestandteile viel besser dargestellt und genauer untersucht werden können als im CT. Dazu gehören auch die Nerven und das Rückenmark. Da wir in diesem Fall im CT keine verdächtige Veränderung feststellen konnten, war es wichtig, auch im MRT das Rückenmark und den Wirbelkanal genau auf Verletzungen oder Blutungen zu untersuchen. Das MRT zeigte aber erfreulicherweise keine Verletzung des Rückenmarks und auch keine Einblutung. Nur eine ganz diskrete Schwellung (Ödem) konnte im unteren Anteil des Rückenmarks, etwa auf Höhe des 11. Brustwirbelkörpers vermutet werden. Dahingegen zeigten sich in der Rückenmuskulatur Zeichen einer Prellung und leichten Einblutung und auch in den knöchernen Dornfortsätzen der unteren Brust- und oberen Lendenwirbelsäule Schwellungen als Zeichen eines kräftigen Anpralls.

Somit konnte die Situation eingeschätzt werden: Der Patient hatte sich eine kräftige Rückenprellung im Brust-/Lendenwirbelsäulenübergang zugezogen und dabei wahrscheinlich eine sogenannte Rückenmarkserschütterung (Commotio medullaris) erlitten. Dabei wird das Rückenmark – ähnlich einer Gehirnerschütterung – kräftig geprellt, ohne dass sichtbare Verletzungen entstehen. Meist führt eine Commotio medullaris zu einem neurologischen Defizit, dass einige Stunden bis maximal einige Tage andauert.

Es kam nun also darauf an, zu sehen, ob es sich bei unserem Patienten ähnlich verhalten würde. Wir brachten ihn auf die Intensivstation und beendeten die Narkose. Nach etwa 20 Minuten zeigte er bereits deutliche Anzeichen des Erwachens und nach 1 Stunde konnten wir ihn bei vollem Bewusstsein untersuchen. Sehr froh konnten wir feststellen, dass er die Beine bereits wieder ganz gut bewegen konnten – wenn auch noch schwach. Allerdings war er selbst aufgeregt und ängstlich darüber, dass er nur wenig Gefühl in den Beinen hatte. Ich konnte ihn anhand der Befunde aus CT und MRT beruhigen und beobachtete den weiteren Verlauf engmaschig.

Bereits am nächsten Tag waren die Symptome vollständig verschwunden. Die Prellungen im Rücken schmerzten schon noch, aber in den Beinen zeigte sich keine neurologische Symptomatik mehr. Am Folgetag konnten wir den Patienten mit Schmerzmitteln nach Hause entlassen, der Reitunfall war glimpflich ausgegangen.

Etwas verwundert war ich trotzdem, als ich nur drei Tage später mit meiner jüngsten Tochter im Martinsumzug ging und mir der heilige Martin doch recht bekannt vorkam. Am Zielort des Zuges angekommen kam Sankt Martin auf seinem Pferd sitzend auf uns zu, auch er hatte mich schon erspäht. „Sehen Sie mal, Herr Doktor, klappt doch schon wieder ganz gut. Vielen Dank nochmal!“ Noch bevor ich eine Antwort geben konnte, ritt er vorbei und wurde von der Menge umringt.

„Kennst Du Sankt Martin?“, staunte meine Tochter. „Warum bedankt der sich bei Dir?“ „Der war bei mir im Krankenhaus“,gab ich zu. „Hast Du ihn gesund gemacht?“, wollte meine Tochter wissen.„Eigentlich“, überlegte ich kurz, „ist er von allein wieder gesund geworden.“ „Na klar,“ strahlte meine Kleine, „er ist ja auch ein Heiliger!“

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