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Der „betrunkene“ Busfahrer

Haltestelle04

Das Sprechzimmer wird von einem großgewachsenen Mann betreten, der unsicher und schwankend auf mich zukommt. Das Gangbild erscheint unbeholfen. Auf den ersten Blick könnte man meinen, der Patient sei alkoholisiert. Herr K. erzählt, dass er seit Jahren unter einer zunehmenden Gangunsicherheit leide. Bisher habe kein Arzt eine Ursache der Beschwerden feststellen können.

Er sei von Beruf Busfahrer in Linienverkehr. Er vermeide dass Ein- und Aussteigen vor den Augen der Fahrgäste, da er taumelnd den Bus betritt. Ein Fahrgast habe ihn wegen Trunkenheit am Steuer gemeldet, Alkohol im Blut konnte jedoch nicht nachgewiesen werden.  

Vor kurzem habe er seinen Orthopäden gewechselt und dieser hatte eine Verdachtsdiagnose. Herr K. erzählte ihm seine Geschichte und erwähnte dabei auch die Tatsache, dass er seit Monaten an einer Störung der Feinmotorik in den Händen litt. So konnte er zum Beispiel die Hemdknöpfe seiner Dienstuniform nicht mehr sicher schließen. Aus dieser Tatsache folgerte der Orthopäde, dass die Störung vermutlich im Bereich der Halswirbelsäule zu suchen sei. Herr K. hatte aufgrund der Gangstörungen bereits mehrere Kernspinaufnahmen (MRT) der Lendenwirbelsäule durchführen lassen, die alle keine Ursache zeigten. Der Orthopäde veranlasste nun ein MRT der Halswirbelsäule, das nun erstmalig einen Aufschluss über die Erkrankung ergab.

Bei der körperlichen Untersuchung ließen sich die Feinmotorikstörungen in beiden Händen nachweisen. Neben dem auffälligen Gangbild zeigten sich überschießende und pathologische Reflexe an den Armen und Beinen. Passend dazu zeigte sich im MRT eine Rückenmarkserweichung (sog. zervikale Myelopathie) im Bereich der mittleren Halswirbel. Diese wurde durch eine hochgradige Verengung des Wirbelkanals (Wirbelkanalstenose) in dieser Region verursacht. Das Rückenmark wird durch den ständigen Druck des ihn umschließenden knöchernen Kanals geschädigt. Es kommt zu lokalen Durchblutungsstörungen mit anschließender Rückenmarkserweichung und den angegebenen Beschwerden.

Um ein weiteres Fortschreiten der Myelopathie zu verhindern und um die Gehfähigkeit zu erhalten haben wir Herrn K. die mikrochirurgische Erweiterung der Stenose angeboten. Im Falle von Herrn K. wurde die Engstelle durch die Wegnahme von zwei Halswirbelkörpern beseitigt. Die Lücke wurde dann durch ein Knochenimplantat überbrückt und die Segmente mit einer Platte verschraubt um eine ausreichende Stabilität zu erreichen und um das Rückenmark nicht weiter mechanisch zu reizen.

Ziel einer solchen Operation ist es, ein weiteres Fortschreiten der Erkrankung zu verhindern. Eine Besserung der bisherigen Symptome kann ebenfalls eintreten, kann aber nicht garantiert werden und ist von Patient zu Patient unterschiedlich. Die zervikale Myelopathie wird häufig zu spät erkannt, da sie schleichend beginnt und bei Gangstörungen oft nicht primär an eine Ursache im Bereich der Halswirbelsäule gedacht wird.

Herr K. hat die Operation gut überstanden und eine Rehabilitation absolviert. Die Gangstörungen haben sich nach einem Jahr leicht gebessert, die Feinmotorikstörungen in den Händen sind nicht mehr nachweisbar. Herr K. fährt nicht mehr Bus. Er befindet sich in einer Umschulung.

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