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Der Marathonmann

Läuferbeine eines Triathleten

Herr K. betritt unsere Ambulanz, ein drahtiger, sehr sportlich wirkender Mann mit leicht gebeugter Haltung, die gar nicht zu ihm zu passen scheint. Herr K. ist in der Darstellung seiner Beschwerden sehr strukturiert. Er berichtet, dass er Triathlet sei, seine Leistungsfähigkeit aber zunehmend nachgelassen habe. Das Laufen habe er seit wenigen Monaten auf Grund von Schmerzen aufgeben müssen, Rennradfahren würde er noch können, aber selbst das Brustschwimmen wäre nicht mehr schmerzfrei. Herr K. ist 72 Jahre alt!

Angefangen hatte es mit nächtlichen Wadenschmerzen. Herr K. ging zunächst von einem Mangel an Spurenelementen aus und nahm vermehrt Magnesium zu sich. Darunter besserte sich seine Symptomatik nicht, vielmehr bekam er nun auch beim Rennen zunehmend krampfartige Schmerzen in beiden Oberschenkeln und Waden. Die Laufstrecke verkürzte sich somit rapide. Sein Trainingsprogramm musste er daraufhin verändern und die Radfahrstrecke verlängern. Im weiteren Verlauf wurden aber auch beim Schwimmen die Beine schwächer, so dass Herr K. nicht mehr in der Lage weiter zu trainieren.

Im täglichen Leben sei er allerdings beschwerdearm, berichtet Herr K. Die täglichen Besorgungen wären zu Fuß möglich, allerdings hätte sich auch hier die schmerzfreie Gehstrecke geringfügig verkürzt. Wäre nicht seine Liebe zum Triathlon gewesen, hätte er mit der Situation gut leben können.

Bei der klinischen Untersuchung des athletischen Patienten zeigte sich, wie erwartet, kein neurologisches Defizit. Schmerzen wurden zum Zeitpunkt der Untersuchung keine angegeben. In der Kernspintomographie (MRT) stellte sich als Ursache für die belastungsabhängigen Beschwerden eine hochgradige Spinalkanalstenose (Wirbelkanalverengung) zwischen dem 3. und 4. sowie dem 4. und 5. Lendenwirbel dar. Die diesen Bereich durchziehenden Nervenwurzeln waren somit stark gedrückt. Ein Wirbelgleiten konnte mit einer Röntgen-Funktionsaufnahme der Lendenwirbelsäule ausgeschlossen werden.

Da Herr K. unter keinem neurologischen Defizit litt und unter Alltagsbedingungen nur geringe Einschränkungen aufwies, wären wir normalerweise bezüglich einer Operationsindikation sehr zurückhaltend gewesen. Allerdings musste hier berücksichtigt werden, dass durch die Spinalkanalstenose eine sportliche Betätigung nicht mehr möglich war. Trotz des fortgeschrittenen Alters des Patienten führte hier der fehlende Leistungssport zu einer erheblichen Einschränkung der Lebensqualität. Wir haben das Für und Wider einer Operation mit dem Patienten ausführlich diskutiert. Gemeinsam haben wir uns dann zu einer operativen Erweiterung des Spinalkanals entschlossen, jedoch mit der Einschränkung, dass das bisherige sportliche Niveau vermutlich nicht mehr erreicht werden wird.

Sechs Monate später stellt sich Herr K. zu einer letzten postoperativen Kontrolluntersuchung bei uns vor. Er steht aufrechter, die Körpersprache ist eine andere. Stolz berichtet er, dass er schon wieder 10 km joggen kann ohne anzuhalten. Leistungssport würde er nicht mehr betreiben wollen, er habe sich aber schon für einen Volkstriathlon (500m Schwimmen, 5 km Laufen, 20 km Radfahren) in vier Wochen angemeldet.

Herr K. trägt bei der Vorstellung ein älteres T-Shirt mit dem Aufdruck „Hawaiian IRON MAN Triathlon 2000“. Nächsten Monat wird er 73 Jahre alt.

Sicher handelt es sich hier um eine nicht alltägliche Krankengeschichte. Sie demonstriert aber wieder, wie individuell Entscheidungen für oder auch gegen eine Operation getroffen werden müssen. Hätte man nur aufgrund des Alters des Patienten, des fehlenden neurologischen Defizits und der geringen Schmerzen in Alltagssituationen entschieden, wäre die Entscheidung eindeutig gegen eine Operation ausgefallen. Aber manchmal tragen auch andere Kriterien zu einer Entscheidung bei, die aber immer gemeinsam mit dem Patienten berücksichtigt und sorgsam abgewogen werden müssen.

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