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Der Patient (lat. patiens = geduldig, aushaltend, erleidend)

Doctor hands holding sign with san clock

„Als Patient wird jemand bezeichnet, der eine ärztliche Leistung oder eine Dienstleistung anderer Personen, die eine Heilbehandlung durchführen, in Anspruch nimmt“ Diese durchaus praktikable Definition des Internetlexikons Wikipedia zielt darauf ab, dass Patienten in der Regel vom Arzt oder Heilpraktiker eine Dienstleistung erhalten, die der Gesundheit des Patienten dient.

In unserer neurochirurgischen Praxis gilt dies zunächst ebenso: Die Patienten erhalten z.B. ein Rezept oder eine Überweisung, eine Verordnung zur Physiotherapie, einen Rat für besseres rückenfreundliches Verhalten, eine Bildgebung oder einen Termin zur Operation. Gelegentlich aber wird nach einem Patientengespräch nicht so ganz klar, welche Dienstleistung eigentlich erbracht wurde und ob es sich überhaupt um ein Arzt-Patienten-Gespräch gehandelt hat. So auch bei Josef W., der mit einem großen Ordner voller Krankenunterlagen in mein Untersuchungszimmer kam.

„Was führt Sie zu mir?“ fragte ich wie üblich zur Einleitung, es sollte mein letzter Wortbeitrag für die nächsten 25 Minuten werden. Herr W. begann zunächst skeptisch davon zu berichten, dass er schon viele Ärzte aufgesucht habe und sich keineswegs sicher sei, ob er überhaupt zu mir hätte kommen sollen, da ich sicher auch nichts für ihn tun könne. Man habe vieles an Therapien ausprobiert, nichts habe geholfen.

Ohne weitere Umschweife erläuterte er mir seine Krankengeschichte, beginnend mit Rückenschmerzen vor 20 Jahren. Er war aus seiner Sicht an viele falsche Ärzte geraten, die konservativen Therapien hätten nicht recht angeschlagen. Seit 16 Jahren sei er nun arbeitsunfähig. Nach länger Krankschreibung hätte er seinen Arbeitsplatz verloren und habe erst nach einem unschönen Rechtsstreit eine Berentung erwirken können. Weil er durch die Schmerzen immer schlechter laufen konnte, war er insgesamt viermal operiert worden. Zunächst habe man den Spinalkanal erweitert, dann habe es Komplikationen gegeben, weshalb eine erneute Operation erfolgen musste. Die Beschwerden seien aber trotzdem immer stärker geworden. Er habe dann in einer anderen Klinik eine „Versteifungs-Operation“ mit 6 Schrauben und 2 langen Stangen bekommen, damit sei das Problem aber überhaupt nicht beseitigt worden. Lange sei er dann von Schmerztherapeuten behandelt worden, die Ergebnisse wären immer wenig überzeugend gewesen. Auch eine Medikamentenpumpe zur Schmerztherapie am Spinalkanal und einen „Schmerzstimulator“ habe man bei ihm ohne Erfolg versucht. Er sei insbesondere von den Operateuren in der letzten Klinik sehr enttäuscht, man habe sich kaum um ihn gekümmert. Schließlich waren in einem letzten Eingriff in einer wieder anderen Klinik die Schrauben und Stäbe aus der Lendenwirbelsäule entfernt worden, das hätte wenigstens die Rückenschmerzen etwas gebessert. Eine erneute Operation komme für ihn daher auf keinen Fall in Frage. Nach wie vor könne er aber sehr schlecht gehen und dadurch sei sein Lebensalltag doch erheblich erschwert. An konservativen Therapien habe er nun aber inzwischen alles ausprobiert und er könne sich nicht vorstellen, dass es noch irgendetwas gäbe, was ihm helfen könne.

 

Fast eine halbe Stunde erzählte Josef W. über den gesamten Verlauf, erwähnte besonders prägnante Aussagen von Ärzten und anderen Behandlern, stellte die Reaktionen seiner Familie und Freunde auf sein Leiden dar, schilderte seinen Lebensalltag und seine Frustration. In einer solchen Situation hake ich normalerweise an den für mich entscheidenden Stellen nach oder versuche bei den weniger relevanten Darstellungen durch gezielte Nachfragen die Schilderung zu beschleunigen. Josef W. ließ jedoch durch seine Art keine Zweifel daran aufkommen, dass er seine Geschichte im Zusammenhang vollständig darstellen musste. Ich ließ ihn daher frei erzählen und fragte mich zunehmend, wo der Schlüssel liegen mochte, der mir ein geeignetes Diagnostik- oder Therapieangebot für den Patienten eröffnete.

Plötzlich sagte Herr W.: „So, nun wissen Sie alles“, und sah mich erwartungsvoll an. Ich schwieg einen Moment und fragte: „Wenn Sie nach dieser langen Leidensgeschichte mit ihren vielen Tiefen und Frustrationen, nachdem 4 Operationen und zahlreiche konservative Therapien nicht helfen konnten, zu mir kommen – welche Hilfe erhoffen Sie dann von mir?“

Er antwortete zu meiner großen Überraschung:“ Herr Doktor, Sie haben mir schon so viel geholfen. Noch nie hat sich ein Arzt die Zeit genommen und hat mich einmal zu Ende angehört. Ich möchte im Moment eigentlich gar keine neue Therapie versuchen. Ich bin aber sehr erleichtert, dass ich meine Krankengeschichte einmal einem Spezialisten erzählen konnte. Vielen, vielen Dank!“

So verließ er die Praxis, ohne dass ich ihn untersucht oder die Krankenunterlagen studiert hatte und ohne jegliche Empfehlung meinerseits.

Was war hier passiert? War der Monolog des Patienten ein Arzt-Patienten-Gespräch im Sinne der Definition oben? War Josef W. an diesem Tag in meiner Praxis überhaupt ein Patient, er hatte schließlich keine ärztliche Dienstleistung im eigentlichen Sinn erhalten?

Manchmal braucht ein Patient gar keine ärztliche Dienstleistung, manchmal ist er einfach nur Mensch und braucht jemanden, der ihm zuhört. Das allein kann schon Leiden lindern. Für einen Arzt bedeutet das, dass er dann mehr Zeit für die Patienten braucht, die er oft aufgrund einer Vielzahl von Patienten und auch aus wirtschaftlichen Zwängen heraus gar nicht hat. Diesen Zwiespalt muss ein Arzt aushalten und erdulden, er wird dann im wahrsten Wortsinn zum „Patienten“.

Josef W. ist bereits aus der Tür als ich die nächste Patientin aus dem Wartezimmer abhole. Noch auf dem Flur beschwert sie sich:“ Wieso dauert das heute so lange, ich hatte schon vor einer halben Stunde meinen Termin?“

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