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Der Umzug

Umzugskisten„Die meisten Bandscheibenvorfälle heilen ganz von selbst.“ Diesen Satz habe ich oft meinen Patienten auf den Weg gegeben, wenn erst seit kurzer Zeit Beschwerden bestanden und eine intensive Therapie noch nicht angebracht erschien. Am eigenen Leib musste ich jetzt erfahren, dass man als Betroffener trotzdem am liebsten eine sofortige Heilung ersehnt und die allmähliche Besserung ungeduldig erwartet.

Es begann eigentlich ganz klassisch. Wir wollten aus unserem Einfamilienhaus in ein neues Eigenheim umziehen. Das gesamte Hab und Gut einer fünfköpfigen Familie musste also in Kisten verpackt und für die Spedition bereitgestellt, sowie im neuen Heim wieder ausgepackt werden. Zwei Wochen waren dafür eingeplant, die großen Möbel wollten wir den Profis überlassen.

Bereits in den ersten Tagen der „Kistenschlepperei“ spürte ich immer wieder einen ziehenden Schmerz im rechten Schulter- und Oberarmbereich. Zunächst dachte ich an eine muskuläre Überbelastung, schließlich war ich das ständige Heben und Tragen nicht wirklich gewohnt. Eines Morgens kam jedoch ein kräftiger Nackenschmerz dazu. Jetzt ahnte ich, was ich mir zugezogen hatte. Noch am selben Tag begann ein andauerndes Kribbeln und Ziehen im rechten Oberarm, genau im Versorgungsgebiet der 5. Halsnervenwurzel. Durch ein seitliches Neigen des Kopfes nach rechts konnte ich die Schmerzen leicht provozieren. Glücklicherweise konnte ich aber keine Lähmungserscheinungen feststellen.

Die Diagnose war für mich damit klar: Ein Bandscheibenvorfall zwischen dem vierten und fünften Halswirbel musste die Ursache für die Beschwerden sein. Zwar wusste ich nun sehr wohl, durch welche Maßnahmen ich die Schmerzen hätte lindern können, allerdings meinte ich, wegen des Umzugs keine Zeit für Schonung, Wärmeanwendungen und leichte physikalische Lockerungsübungen zu haben. Entsprechend reagierte ich unvernünftig, vertiefte mich weiter in die Arbeit, nahm nach Bedarf Schmerzmittel ein und ignorierte das Kribbeln im Arm so gut ich konnte.

Zunächst verlief auch alles nach Plan. Die Beschwerden nahmen zwar unter der Belastung nicht ab, ließen sich aber mit gelegentlichen Schmerzmitteln ganz gut lindern. Der Umzug klappte problemlos und schließlich war alles im neuen Haus an seinem richtigen Platz angekommen. Jetzt brauchte ich bloß noch ein paar Lampen und Regale anbringen und wollte dann im verbleibenden Resturlaub meinen Bandscheibenvorfall in Ruhe auskurieren. Leider sollte es anders kommen.

Beim Anbringen der Deckenlampen und einiger Regale musste ich etliche Löcher in die Decken und hoch oben in die Wände bohren. Überkopfarbeiten sind bei Bandscheibenschäden eigentlich überhaupt nicht ratsam. Nun sollte ich merken, warum wir diesen Rat in unseren Arztbriefen ständig verbreiten. Beim Anbringen einer Deckenleuchte schoss es mir wie ein Blitz in den Arm und sofort fiel mir der Bohrer vor Schmerz aus der Hand. Ein rasendes Kribbeln und Ziehen durchzog meine Schulter und meinen Oberarm über dem Bicepsmuskel. Ich könnte definitiv nicht mehr weiterarbeiten. Durch vorsichtiges Bewegen der Halswirbelsäule versuchte ich, eine Position zu finden, die dem Arm etwas Linderung verschaffte. Ich legte mir ein warmes Körnerkissen auf den Nacken und nahm noch einmal Schmerzmittel ein. Erst nach 2 Stunden ließ der Schmerz langsam nach. Ich hatte aber das Gefühl, das der rechte Deltoideusmuskel weniger kräftig war als der linke, außerdem war die Sensibilität eindeutig gestört.

Da hatte ich meine Quittung! Meine Ignoranz hatte nun zum Vollbild eines Nervenwurzelreizsyndroms geführt: Schmerz, Gefühlsstörungen und Lähmung im Versorgungsgebiet einer Nervenwurzel. Ich ärgerte mich maßlos. Anscheinend hatte ich geglaubt, mir könne so etwas nicht passieren. Am liebsten hätte ich mich noch am selben Tag operieren lassen, um die Schmerzen loszuwerden, schließlich hatte ich mich schon seit Tagen damit herumärgern müssen.

Ich beschloss, nun auf mein besseres Wissen zu hören und mir eine Ruhepause zu gönnen. Falls die Lähmung am nächsten Tag nicht gebessert wäre, würde ich meine Kollegen aufsuchen, um eine Kernspintomographie zu machen.

Ich hatte Glück: Am nächsten Morgen waren die Arme wieder fast gleich stark und auch die Gefühlsstörung hatte etwas nachgelassen. Hatte ich also noch rechtzeitig eingelenkt? Ich vermied in den nächsten Tagen jegliche Anstrengungen und sorgte für viel Muskelentspannung mit Wärme und Muskelrelaxantien. Schnell waren die neurologischen Ausfälle ganz verschwunden. Glück gehabt. Am letzten Urlaubstag brauchte ich erstmals keine Medikamente mehr. Ich war praktisch beschwerdefrei.

Am ersten Arbeitstag nach dem Urlaub war ich für eine Halsbandscheibenoperation eingeteilt. Bei der morgendlichen Visite traf ich den Patienten und sprach mit ihm nochmals über die anstehende Operation. Er zeigte sich ganz motiviert: „Herr Doktor, sie werden es mir nicht glauben. Ich freu mich richtig auf die Operation, weil ich dann endlich meine Schmerzen los werde.“ Ich musste lächeln: „Doch, das glaube ich Ihnen. Sie ahnen nicht, wie gut ich Ihnen das nachfühlen kann.“ Vor der Tür bewegte ich nochmal meinen Nacken und prüfte die Kraft und das Gefühl in meinen Arm. Alles war gut. Eine Krankenschwester kommt vorbei: „Na, warum grinst Du denn so breit?“, fragt sie mich. Ich strahle sie an: „Weil ich heute der Arzt und nicht der Patient bin!“ Die Schwester guckt verdutzt, dann müssen wir beide schallend lachen.

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