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Ein steiniger Weg zur Diagnose

Herr M. (68 J.) betritt den Untersuchungsraum. Er geht an Gehstützen und setzt mühsam ein Bein vor das andere. Sein erster Satz ist geprägt von einer langen Krankengeschichte. „Keiner hat bisher die Ursache meiner Gehstörungen gefunden. Ich glaube inzwischen schon daran, dass ich mir alles einbilde. Meinen Angehörigen und Freunden kann ich nicht erklären woran ich leide. Das ist mein größtes Unglück“.

Herr M. beschreibt seit zwei Jahren eine zunehmende, schmerzlose Kraftlosigkeit beider Beine, verbunden mit einer erheblichen Gangunsicherheit. Es habe schleichend begonnen. Inzwischen traue er sich nicht mehr auf die Straße, aus Sorge, die Nachbarn könnten denken er habe getrunken.

Zunächst tippte der Orthopäde als Ursache seiner Beschwerden auf eine Enge (Stenose) des Spinalkanals im Bereich der Lendenwirbelsäule. In der Kernspintomographie (MRT) zeigte sich zwar eine leichte Engstellung des Wirbelkanals, allerdings ohne Druck auf das Nervengewebe auszuüben. Der behandelnde Arzt empfahl zunächst Physiotherapie.

Im weiteren Verlauf kam es zu einer zunehmenden Verschlechterung des Gangbildes, verbunden mit einer Kraftlosigkeit der Beine. Schmerzen standen dabei nicht im Vordergrund. Der Neurologe stellte bei seiner Untersuchung eine Schädigung der hemmenden Bahnen im Rückenmark fest. Dies zeigte sich z.B. an überschießenden Reflexen an den Beinen. Unter der Verdachtsdiagnose einer zervikalen Myelopathie, also einer Schädigung des Rückenmarkes im Bereich der Halswirbelsäule (s.a. den Blog „Der betrunkene Busfahrer“) wurde ein erneutes MRT, diesmal der Halswirbelsäule, durchgeführt. Auch hier wurden erhebliche Verschleißerscheinungen diagnostiziert, allerdings ohne wirklich eine Ursache der Beschwerden darzustellen.

Herr M. glaubte inzwischen selbst nicht mehr an eine innere Ursache. Allerdings kamen neue Beschwerden hinzu. Er konnte zuletzt den Harnabgang nur noch mit großer Mühe kontrollieren. Das machte Herrn M. die größten Sorgen.

Ein Arztwechsel brachte die Diagnose. Zwischen der Halswirbelsäule und der Lendenwirbelsäule befindet sich die Brustwirbelsäule. Bandscheibenvorfälle oder Spinalkanalengen sind in dieser Region allerdings selten. Dem neuen Arzt fiel auf, dass nur die Beine, aber nicht die Hände von der Schwäche betroffen waren. Also war es wahrscheinlich, dass sich die Ursache unterhalb der Halswirbelsäule befinden musste. Das MRT zeigte im Bereich der mittleren Brustwirbelsäule einen sehr großen, inzwischen verknöcherten Bandscheibenvorfall, der den Rückenmarkskanal um mehr als Zweidrittel einengte. Das Rückenmark zeigte sich in diesem Bereich durch den chronischen Druck massiv geschädigt.

Mit dem MRT der Brustwirbelsäule stellte sich Herr M. bei uns vor. Seine Hoffnung war groß, dass er die Beschwerden durch eine Operation vollständig loswerden würde. Das Aufklärungsgespräch allerdings ernüchterte Herr M. Das Ziel der Operation war die Entlastung des Rückenmarks um weiteren Schäden vorzubeugen. Allerdings sind die Ergebnisse von Operationen im Bereich der Brustwirbelsäule nicht so gut, wie sie an der Hals- oder Lendenwirbelsäule sind. Dies ist durch die schwierigeren anatomischen Verhältnisse begründet. Zusätzlich war der Bandscheibenvorfall vollständig verknöchert.

Bei der Operation zeigte sich, dass nur ein Teil des knöchernen Bandscheibenvorfalls durch den hinteren Zugang entfernt werden konnte, um das das gereizte Rückenmark durch eine Verlagerung nicht noch mehr zu gefährden.

Postoperativ haben sich die Blasenbeschwerden zunächst weiter verschlechtert. Herr M. ist verständlicherweise vom Operationsergebnis enttäuscht. Wir haben lange mit Herrn M. beraten, was zu tun sei, und sind zu dem gemeinsamen Ergebnis gekommen, unter urologischer Mitbehandlung zunächst auf eine Besserung der Blasenfunktion zu warten.

Um die weitere Reizung des Rückenmarks in Zukunft zu verringern, bleibt noch der operative Ersatz des Wirbelkörpers. Dazu ist allerdings eine Operation von vorne oder der Seite unter Eröffnung des Brustkorbs notwendig. Auch hier gilt es eine langsam eintretende Querschnittslähmung zu verhindern und den aktuellen Zustand zu erhalten.

Herr M. geht weiter an Gehstützen, eine echte Besserung ist noch nicht erreicht. Er ist aber dankbar, dass seine Erkrankung nun einen Namen hat und er sich seine Beschwerden nicht einbildet. Nun hofft er, dass die nächste Operation eine vollständige Entlastung des Rückenmarkkanals bringt.

Fazit: Bandscheibenvorfälle an der Brustwirbelsäule sind selten und nicht immer zufriedenstellend operativ zu therapieren. Man sollte immer dann daran denken, wenn im Bereich der Hals- und Lendenwirbelsäule keine Ursachen für entsprechende Beschwerden gefunden werden.

1 Kommentar

  1. Vielen Dank für den interessanten Artikel. Es ist eine Krankengeschichte, wie sie leider häufiger auftritt. Vor der richtigen Diagnose stehen verschiedene Arztbesuche und unter Umständen sogar mehrere Fehldiagnosen. Gut, dass der Patient jetzt zumindest weiß, was mit ihm los ist.

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