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Heilige Nacht

heiligenachtKurz vor Heiligabend wird es in den Operationssälen unseres Krankenhauses in jedem Jahr ruhiger, da planbare Operationen meist erst nach den Feiertagen durchgeführt werden. Die Patienten möchten zu Weihnachten lieber zuhause sein und den Jahreswechsel nicht unbedingt im Krankenhaus verbringen. Dieser Umstand erlaubt es uns, zwischen den Jahren mit reduzierter Personalstärke zu arbeiten und somit wenigstens einigen Mitarbeitern ein paar Tage Urlaub zu gewähren. Für die arbeitenden Kollegen gilt es, rund um die Uhr eine ausreichende Besetzung zu gewährleisten, um jederzeit die Notfälle und dringlichen Erkrankungen behandeln zu können.

In der Wirbelsäulenchirurgie geht es dabei hauptsächlich um Patienten mit akuten neurologischen Symptomen oder mit starken Schmerzen, die konservativ nicht zu beherrschen sind. Auch Infektionen im Bereich der Wirbelsäule sind häufig dringend behandlungs- und operationspflichtig.

In der Notaufnahme herrscht dagegen insbesondere während der Feiertage ein reger Betrieb. Zahlreiche Patienten kommen mit ihren Beschwerden ins Krankenhaus, da viele Praxen der Hausärzte und der niedergelassenen Fachärzte in diesen Tagen geschlossen haben und die Vertretungspraxen überfüllt sind oder zu weit entfernt liegen.

So wurde ich schon am Morgen des ersten Weihnachtstages in die Notaufnahme gebeten, wo bereits vier Patienten mit Rückenschmerzen auf einen Arzt warteten. Ich schaute zunächst nach unseren Patienten auf der Station und wurde dabei von der geburtshilflichen Station angerufen. Es liege dort eine Patientin, die seit ihrer Entbindung in der Nacht über ein Taubheitsgefühl in den Beinen klagen würde. Jetzt am Morgen habe sie auch Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule angegeben. Die Hebamme hatte dieses bei ihrer Visite festgestellt und war zu Recht besorgt.

Ich vertröstete telefonisch den Pfleger in der Notaufnahme, versprach ihm mein baldiges Kommen und ging in die Gynäkologie. Lena K. war eine 23-jährige Patientin, die von der Geburt in der Nacht noch reichlich mitgenommen, wenn auch zufrieden wirkte. Sie hatte ihr erstes Kind bekommen und dabei zur Schmerztherapie eine sogenannte peridurale Anästhesie (PDA, auch Rückenmarksspritze genannt) bekommen. Dabei wird ein feiner Katheter durch eine Nadel in den Wirbelkanal eingeführt, in dem sich auch der Rückenmarksschlauch mit den Nervenwurzeln befindet. Durch die kontinuierliche Gabe eines Betäubungsmittels (Anästhetikums) durch diesen Katheter werden die Nervenwurzeln betäubt und damit das Schmerzempfinden im Bereich des Beckens und der Beine herabgesetzt, ohne das eine Lähmung eintritt. So kann die Geburt mit voller Unterstützung der Muskulatur aber mit deutlich weniger Schmerzen gelingen.

Nachdem sich die junge Patientin von den Geburtswehen etwas erholt hatte, waren Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule aufgetreten. Sie hatte daraufhin nochmals einen Bolus des Anästhetikums über den PDA-Katheter erhalten, dann war der Katheter entfernt worden. Die Schmerzen ließen auch tatsächlich nach, stattdessen spürte sie nun eine Taubheit beider Beine. Die diensthabende gynäkologische Kollegin wurde dazu gerufen. Sie hatte Frau K. erklärt, dass die Taubheit der Beine wahrscheinlich mit der Bolusgabe des Anästhetikums zusammenhängen würde. Es könne dabei schon mal eine zu starke Wirkung auftreten, was die Taubheit der Beine gut erklären würde. In einigen Stunden würde sie den Befund nochmals kontrollieren. Bevor diese Kontrolluntersuchung stattfinden konnte, war allerdings die Hebamme auf den Befund aufmerksam geworden und hatte mich gerufen.

Bei der Untersuchung zeigte sich ein überraschend ausgeprägter Befund: Es bestand ein vollständiges Taubheitsgefühl der Beine unterhalb der Leistenregion und eine deutliche Schwäche der Muskulatur im Ober- und Unterschenkel beidseits. Die Hüftbeugung gelang noch problemlos, schon die Kniestreckung war eigentlich kaum möglich. Auch Fußhebung und –senkung zeigten sich erheblich abgeschwächt. Schmerzen bestanden nur im LWS-Bereich, die Einstichstelle der PDA war eher unauffällig. Dieser Befund ließ sich durch eine bloße Medikamentenwirkung nicht erklären.

Ich veranlasste eine dringende Kernspintomographie (Magnetresonanztomographie = MRT) der Lendenwirbelsäule. Lena K. war sehr beunruhigt. Vor allem machte sie sich Sorgen wegen ihres Kindes, das doch nun bald erneut gestillt werden müsse. Da das MRT gerade frei war, konnten wir die Untersuchung zügig durchführen lassen. Ich nutzte die kurze Zeit, die das MRT andauern würde, um in der Notaufnahme nach den Patienten zu sehen.

Die ersten beiden hatten „nur“ unspezifische Rückenschmerzen und konnten durch Anlegen einer Infusion gebessert werden. Sie sollten nach Beendigung der Infusion noch ein Rezept für ein leichtes Schmerzmittel erhalten und dann nach Hause entlassen werden. Aus dem MRT erhielt ich nun den Anruf, dass die Bilder der gynäkologischen Patientin fertig seien. Noch in der Notaufnahme schaute ich mir auf dem Monitor die Aufnahmen an und fand meinen Verdacht unglücklicherweise bestätigt: Durch das Anlegen der PDA war eine Blutung im Wirbelkanal entstanden, die nun den Rückenmarksschlauch erheblich zusammendrückte und damit die Nervenwurzeln quetschte. Eine solche Blutung muss operativ entfernt werden, um den Druck auf die Nerven zu beenden und eine bleibendes Querschnittssyndrom zu vermeiden.

Ich ging zügig zur Station, um den Befund mit Frau K. zu besprechen. Die verbliebenen Patienten der Notaufnahme fingen laut an zu meckern, als sie mich weggehen sahen. Die Wartezeit wurde ihnen allmählich zu lang.

Lena K. stillte grade ihren neugeborenen Sohn und war völlig schockiert, als ich ihr den Befund erklärte und ihr nahelegte, dass nur eine zügige Operation eine gute Chance auf Besserung brachte. Sie müsse nun zunächst mit ihrem Ehemann sprechen, der jeden Moment eintreffen würde. Ich telefonierte kurz mit dem OP-Team, um den Eingriff anzumelden, als der Ehemann dazukam. Er ließ sich die Situation von mir erklären und drängte seine Frau sofort, dem Eingriff zuzustimmen. Frau K. hatte nach wie vor Bedenken und hatte vor allem das Wohl ihres Kindes im Blick. Im Falle einer Operation könne sie nicht stillen und das wäre schlecht für ihr Kind. Mithilfe der Stationsschwester gelang es uns, die Patientin davon zu überzeugen, dass die Muttermilch nur für einen kurzen Zeitraum nach der Operation verworfen werden müsse und dass sie danach wieder wie geplant ihrem Sohn stillen könne. Schließlich willigte Lena K. in den Eingriff ein.

Bis zum Beginn der Operation hatte ich nun noch einige Minuten Zeit, in der die Anästhesistin die Narkose einleiten würde. Also eilte ich wieder in die Notaufnahme, um die anderen Patienten zu sehen. Einer von diesen hatte die Notaufnahme zwischenzeitlich wutentbrannt verlassen, da er stundenlang habe warten müssen und sich niemand gekümmert habe. Der andere Patient wollte ein neues Rezept für die Schmerzmittel, die sein behandelnder Orthopäde ihm seit Jahren verschreibe. Er habe nicht aufgepasst und nun seit gestern keine mehr vorrätig gehabt. Eine Untersuchung oder akute Behandlung sei nicht notwendig, da er mit dem gewohnten Medikament immer gut zurecht gekommen sei und auch nichts anderes einnehmen wolle. Er brauche einfach nur das Rezept. Ich hatte keine große Lust, eine Diskussion über die eigentliche Aufgabe einer Notaufnahme zu führen. Ich verschrieb ihm also das Medikament und machte mich auf in den OP.

Die Operation verlief unspektakulär, die Blutung ließ sich leicht absaugen, andere Komplikationen traten nicht auf. Nach dem Eingriff sprach ich kurz mit dem Ehemann, der sichtlich erleichtert meinen Bericht entgegennahm. Ich gratulierte ihm nun noch zur Geburt des Sohnes, vorher hatte ich daran noch gar nicht gedacht. Wie denn das Kind heißen solle, wo es doch in der Heiligen Nacht geboren sei, wollte ich wissen. Darüber habe er mit seiner Frau noch gar nicht abschließend gesprochen, gab er zu. Sie hätten verschiedene Favoriten, seien aber noch nicht entschieden.

Am Nachmittag hatte ich zum ersten Mal Gelegenheit, nach Lena K. zu schauen. Sie lag wieder auf der Station und freute sich sichtlich, mich zu sehen. Ich prüfte die Funktion der Beine und wir konnten zufrieden feststellen, dass die Lähmungen schon erkennbar zurückgegangen waren. Die Gefühlsstörungen bestanden noch weiterhin. Ich erklärte ihr, dass es noch einige Zeit dauern würde, bis sich die Situation wieder normalisiert habe. Es würde aber wahrscheinlich noch sehr viel besser werden.

Zum Schluss wollte ich noch von ihr wissen, ob man mit der Namensfindung schon weitergekommen sei. „Wie heißen Sie denn?“, fragte sie mich. Ich nannte ihr meine Vornamen. „Na ja“, ergänzte sie lächelnd, „vielleicht bleiben wir doch lieber bei „Noel“, schließlich ist er ja an Weihnachten geboren.“

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