Menü

Das Camouflage-Pärchen

„Ich habe ganz starke Rückenschmerzen. Aber operieren kann man mich nicht, so ein hoffnungsloser Fall bin ich.“ Mit diesen Worten setzte sich eine Patientin in mein Sprechzimmer. „Ich hab’s ganz doll in den Beinen, aber jetzt ist die erstmal dran!“, mischte sich sofort die Begleitperson ein, die mitgekommen war und von der ich beim besten Willen nicht hätte sagen können, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Es schien schon jetzt kein normaler Sprechstundentermin zu werden.

Mit ganz kurz geschorenen Haaren und fast identisch in Camouflage-Overalls gekleidet saßen die beiden vor mir und sahen mich aus runden Mondgesichtern aufmunternd an. Beide waren auffällig dick und eher klein gewachsen und nur die sehr unterschiedlichen groben Gesichtszüge der beiden ließen erkennen, dass hier keine Schwestern, sondern offenbar ein Paar erschienen war.

„Im Grunde geht’s um eine Zweitmeinung“, ergriff nun die Patientin wieder das Wort. „Ich kann schon seit Jahren nicht mehr arbeiten und kein Arzt hilft mir weiter. Die Therapien kann ich mir nämlich alle nicht leisten, ich bin nämlich „Hartz 4“. Deshalb habe ich jetzt Rente beantragt.“

Ich war noch gar nicht zu Wort gekommen, da hatte sich der eigentliche Grund des Erscheinens der Patientin aber schon entpuppt: Hier ging es nicht um die Frage nach Therapie oder Heilung sondern um den Wunsch nach einem Befund für den Rentenantrag!

Ich versuchte mir erst einmal einen Überblick zu verschaffen und lud die MRT Bilder von der CD hoch, während ich mich nach der Art und Lokalisation der Schmerzen erkundigte. Während beide mir in den schillerndsten Farben das tägliche Leid und Elend mit den sehr diffusen Schmerzen schilderten, erschien das MRT auf dem Bildschirm und zeigte eine völlig normale Wirbelsäule. Auffällig war aber, dass kaum noch Rückenmuskulatur zu erkennen war. Durch offensichtlichen erheblichen Bewegungsmangel hatte sich die Muskulatur fast vollständig zurückgebildet. Dadurch kann es insbesondere bei zusätzlich starkem Körpergewicht zu andauernden Rückenschmerzen kommen.

Ich hörte mir die Schilderungen der Patientin und ihrer Begleitung zu Ende an und untersuchte dann, zugegebenermaßen recht kurz, die Wirbelsäule auf andere Hinweise und prüfte auf neurologische Ausfälle, die nicht zu finden waren.

„Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für Sie“, begann ich meine Ausführungen. Die Patientin ergriff gleich den Arm ihrer Begleitung und stieß aus: „Siehste, ich wusste es. Es steht schlimm um meinen Rücken!“ Beide sahen mich erwartungsvoll an. „Nein, nein, Ihr Rücken ist völlig in Ordnung, das ist die gute Nachricht“, klärte die ich schnell auf. Verdutzte Blicke trafen mich. „Das kann ja gar nicht! Der Radiologe hat doch hier alles aufgeschrieben. Ich habe Osteochondrose und Spondyo…Spond… ach, sie wissen schon was.“ „Da sind nur die typischen Verschleißerscheinungen, die viele in ihrem Alter haben.“, erklärte ich. “Da ist nichts wirklich Krankhaftes!“  Nun wachte auch die Begleitung aus ihrer Schockstarre wieder auf: „Und was ist die schlechte Nachricht?“ „Nun, sie sind zu dick und bewegen sich zu wenig.“ konfrontierte ich die Patientin, „Ihre Muskulatur ist fast völlig weggeschmolzen, sie sollten da dringend etwas tun.“ Ganz entrüstet wehrte sich nun die Patientin: „Ich kann nicht in ein Fitness-Studio, das kann ich mir nicht leisten. Da müssen Sie dann was rezeptieren.“ „Nein!“, sagte ich, „Ich meine kein Fitness-Studio! Ich spreche von Laufen, Turnen, Schwimmen, Spazierengehen, usw. Alles Dinge, kein Geld kosten müssen! Damit sollten Sie anfangen.“ „Dann brauche ich also gar nicht operiert werden?“, fragte die Patientin sichtlich enttäuscht. „Auf keinen Fall!“, bestätigte ich. Die Patientin und ihre Begleitung tauschten Blicke aus und schienen sich auf das weitere Vorgehen still zu einigen. „Ja dann wissen wir erstmal Bescheid.“, beendeten die beiden das Gespräch und eilten schnell aus dem Sprechzimmer. Ich habe seither nichts mehr von den beiden gehört. Wahrscheinlich ist der Rentenantrag inzwischen genehmigt.

Schreibe einen Kommentar

Pflichtfelder sind mit * markiert.