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Der „cholerische“ Rückenschmerz

Schon einige Monate war Frau B. bei einem Schmerztherapeuten in Behandlung, weil sie permanent unter einem Bandscheibenvorfall in der Lendenwirbelsäule litt. Erst auf Drängen des Arztes stellte sie sich in unserer neurochirurgischen Praxis vor, obwohl sie eigentlich auf gar keinen Fall operiert werden wollte. Ich dachte eigentlich, dass Frau B. mit einer schlichten Operation des Vorfalls leicht zu helfen sein müsste. Die Heilung kam aber erst überraschend nach einer ganz anderen Behandlung. Es zeigte sich, dass der klinischen Erfahrung manchmal mehr zu trauen ist, als einem MRT-Bild.

„Nun geben sie der OP doch endlich eine Chance und lassen sie den Vorfall einfach entfernen“, ermunterte ich die Patientin, die nun schon zum dritten Mal in meine Sprechstunde kam, um sich beraten zu lassen. Die Sache war im Grunde klar. Ein typischer Bandscheibenvorfall zwischen dem vierten und fünften Lendenwirbel drückte auf den Nerven. Die Beschwerden bestanden schon fast ein Jahr und die konservative Therapie hatte kaum einen Effekt erzielt. Da die Patientin aufgrund der Beschwerden zunehmend in ihrem Alltag nicht mehr zurechtkam, war eine Operation sinnvoll und berechtigt. „Können Sie mir denn versprechen, dass die Beschwerden dann besser werden?“ Diese Frage kannte ich von vielen anderen Patienten und meine Antwort kam bereits automatisch: „Nein, aber ich kann Ihnen versprechen, dass in dieser Situation Ihre Chance auf Besserung mit Operation viel besser ist als ohne.“

Frau B. ließ sich davon überzeugen, die Operation verlief problemlos, die Patientin konnte nach drei Tagen entlassen werden. Bei der Kontrolluntersuchung zeigte sich Frau B. noch skeptisch. Sie habe tatsächlich keine Schmerzen mehr im Bein, allerdings spüre sie schon noch Wundschmerzen und habe sich auch noch nicht richtig belastet. Insofern wäre der weitere Verlauf noch abzuwarten.

Nach drei Monaten sah ich Frau B. erneut in der Sprechstunde und erfuhr, dass sie jetzt wieder Schmerzen habe. Allerdings zeigte sich in der Untersuchung ein anderes Bild als vor der Operation. Es handelte sich eher um Schmerzen im Bereich des Iliosakralgelenks, aber auch dazu passte das Symptomenbild eigentlich nicht. Die Patientin machte sich Sorgen, das ein erneuter Bandscheibenvorfall aufgetreten sein könnte. Ich veranlasste daher zunächst ein Kontroll-MRT. Leider hatte der Radiologe der Patientin bei der Bildbesprechung einen erneuten Bandscheibenvorfall und entzündliche Veränderungen attestiert, die ich beim besten Willen nicht erkennen konnte. Natürlich sah man Veränderungen an der Bandscheibe und im Spinalkanal, ich hielt das jedoch nicht für einen neuen Bandscheibenvorfall. Derart in Bedrängnis gebracht kostete es mich einige Überzeugungskraft, die Patientin von einer Therapie des Iliosakralgelenks (ISG-Syndrom) zu überzeugen. Glücklicherweise vertraute mir Frau B. in dieser Situation offenbar mehr als dem Radiologen.

Die Behandlung mit Infiltrationen, manueller Therapie und medikamentöser Behandlung zog sich eine Zeit hin und war nur zwischenzeitlich und teilweise erfolgreich. Letztlich musste auch ich zugeben, dass ein klassisches ISG-Syndrom längst hätte gebessert sein müssen. Stets bleib der Verdacht im Raum, dass die Beschwerden vielleicht doch durch einen neuen Bandscheibenvorfall verursacht würden. Nach einem halben Jahr einigten Frau B. und ich uns auf ein erneutes MRT, um diese Frage möglichst endgültig zu klären.

Auch das neue MRT ergab keine anderen Befunde: Zu sehen waren die typischen narbigen Veränderungen in der Nähe des damals betroffenen Nerven. Nach wie vor sah ich keinen Druck auf den Nerven, weshalb eine neuerliche OP aus meiner Sicht keinen Sinn machte. Immer noch passten die Beschwerden nicht zu einem erneuten Bandscheibenvorfall. Die Patientin machte sich verständlicherweise zunehmend Gedanken, ob ich damit weiter richtig liegen könnte. Wir vereinbarten eine periradikuläre Infiltration (sogenannte PRT), bei der der betroffene Nerv mit einem Betäubungsmittel umspritzt wird. Dadurch lässt sich herausfinden, ob die Beschwerden überhaupt durch den Nerven ausgelöst werden oder doch eine andere Ursache haben.

Nun zeigte sich, dass Frau B. keine große Freundin von Spritzen war, denn sie zögerte die PRT mehrmals hinaus und ließ sich zwischenzeitlich weiter physiotherapeutisch behandeln. Schließlich kann sie nach einer etwas längeren Zeit wieder in die Sprechstunde und erklärte mir erfreut, dass sie schmerzfrei sei. Etwas verdutzt aber erleichtert wollte ich nun wissen, was denn die „Wunderheilung“ bewirkt habe. Die Lösung war überraschend: Frau B. war mit akuten Oberbauchbeschwerden ins Krankenhaus gebracht worden, die Diagnostik habe schnell eine Gallenblasenentzündung (Cholezystitis) aufgrund von Gallensteinen (Cholezystolithiasis) gezeigt. Die zügige Operation sei problemlos verlaufen, die Gallenblase sie mit den Steinen entfernt worden. Seit dieser Zeit habe sie keinerlei Oberbauchbeschwerden, aber auch keine sonstigen Schmerzen mehr. Insbesondere auch die untypischen Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule waren völlig verschwunden.

„Tut mir leid, dass ich darauf nicht gekommen bin. Das habe ich in dieser Form noch nie erlebt.“, erklärt ich der Patientin, tatsächlich überrascht von dieser Wendung. Sie entgegnete prompt: „Kein Problem, ich bin Ihnen dankbar, dass Sie bei Ihrer Meinung geblieben sind. Hätten Sie sich von mir oder dem Radiologen überzeugen lassen, wäre ich völlig grundlos wieder an der Wirbelsäule operiert worden.“

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